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'Martinsgespräch' der DiAG IDA am 18.02.2010 im Haus der Caritas mit Prof. Dr. Stefan Sell

"Der Umbau des Sozialstaates und die Freie Wohlfahrtspflege"

Prof. Dr. Stefan SellDer Saal im Aachener Haus der Caritas war voll besetzt, als Diözesancaritasdirektor Burkard Schröders zum Thema "Der Umbau des Sozialstaates und die Freie Wohlfahrtspflege: Treiber oder Getriebene" den Referenten Prof. Dr. Stefan Sell begrüßte. Angesichts der Tatsache, dass Prof. Sell in den letzten Wochen in zahlreichen Medien zu den aktuellen Debatten um den Sozialstaat Stellung genommen hatte, meinte Schröders: "Sie sind engagiert in Forschung und Lehre, als Volkswirtschaftler und Sozialwissenschaftler zugleich und zuletzt auch öffentlicher Kritiker und Mahner unterwegs, wenn soziale Schieflagen und Ungerechtigkeiten erkennbar sind, die den gesellschaftlichen Konsens und Frieden gefährden können".

Diesem Eingangsbild entsprach Sell in spannender und hervorragender Weise. In seinem Intro machte er deutlich, dass die aktuellen Debatten um den Sozialstaat geprägt sind von massiven Qualitätsmängeln und heftigem Durcheinander. Falsche Aussagen werden unwidersprochen als wahr hingestellt. Fachlichkeit und Sachlichkeit müssen - auch von den Wohlfahrtsverbänden - in die Debatte gebracht werden, weil sonst gerade Menschen am Rande immer mehr unter Druck geraten und zum Kostenfaktor im Sozialstaat reduziert werden. Wenn wir diesen Trend nicht stoppen, wird dauerhafte Exklusion zunehmen, trotz des EU-Jahres gegen Armut und Ausgrenzung 2010 - so Prof. Sell.

Die neuen Armutszahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaft in Berlin machen es deutlich. Sell präsentierte die erschreckende Tatsache, dass inzwischen "eine deutlich höhere relative Einkommensarmut als noch vor zehn Jahren zu verzeichnen ist. Rund 11,5 Millionen Menschen liegen mit ihrem verfügbaren Einkommen unter der Armutsrisikoschwelle, dies entspricht rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung". Dabei sind Haushalte mit drei und mehr Kindern in extremer Weise armutsgefährdet. Diesen Sachverhalt bezeichnete Sell als "strukturelle Gewalt gegen Familien in der angeblich kinderfreundlichen Gesellschaft". Hier sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege angesichts der Frage "Treiber oder Getriebene" in ihrer Anwaltschaftlichkeit unmittelbar gefordert.

Engagiert machte Sell deutlich, dass in den letzten Jahren systematisch ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde, der geprägt ist von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, überproportionaler Teilzeitbeschäftigung und zunehmend exzessiver Befristungspraxis. Der soziale Sektor ist in diesem Bereich Opfer und Täter, Treiber und Getriebener zugleich. Sell analysierte, dass angesichts einer "stärkeren Leistungsvergabe unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten bei gleichzeitiger Öffnung des sozialen Dienstleistungsmarktes für private Anbieter ein Kostendruck entsteht, der die Gefahr einer Transformation des sozialen in einen Niedriglohnsektor mit sich bringt."

Abschließend versuchte Prof. Sell mit den über sechzig Teilnehmern der dritten und abschließenden Veranstaltung in der Gesprächsreihe "Caritas und Sozialstaat - Auf dem Weg vom Umbruch zum Umbau" Anforderungen für die Zukunftsfähigkeit zu entwickeln. Angesichts der mehrfachen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik - Prof. Sell umschrieb sie mit

  • ambulant vor stationär;
  • regional/dezentral vor zentral;
  • Assistenz statt Fürsorge;
  • Kunde/Nutzer statt Klient/Patient;
  • Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung und
  • Subjektförderung statt Objektförderung -
ist zu befürchten, dass bei steigendem Wettbewerb eine zunehmende Instabilität der Träger in der Freien Wohlfahrtspflege gegeben sein wird. In einer Triade der zukünftigen sozialpolitischen Landschaft könnte sich ergeben, dass zum einen konkurrenzfähige Sozial- / Health- / Wellness-Unternehmen am Markt bestehen, zum anderen chronisch unterrefinanzierte Pflichtversorger die sozialen Belange der Menschen am Rande begleiten und zum dritten sozialanwaltschaftliche Armutsinitiativen sich für Gerechtigkeit und sozialen Frieden einsetzen. Auch die Caritas muss sich angesichts der Frage "Treiber oder Getriebene" entscheiden, wo sie sich in dieser möglichen Triade einordnet bzw. eingeordnet werden will.

Insgesamt stellte Sell fest, dass strategische Dilemmata die Wohlfahrtsverbände zunehmend auf sich selbst verweisen und externe Unterstützung in jedem Einzelfall aufs Neue erarbeitet werden muss. So werden zukünftig noch mehr Träger und Projekte von gesellschaftlichen Konjunkturen abhängen, die zudem eine immer kürzere Halbwertzeit aufweisen.

"Mag sein, dass ich einmal, wenn alles erreicht ist, erreicht habe nichts, als ein Anfang von vorn", diese Zeile aus einem Lied von Wolf Biermann hätte einem in den Sinn kommen können, als der lang anhaltende Beifall für den spannenden Vortrag von Prof. Sell verklungen war. Denn nach diesem Vortrag bleibt einiges zu tun. Die Frage "Treiber oder Getriebene" musste schließlich offen bleiben; es bleibt, dass "Not sehen und handeln" uns gerade deshalb zum Anpacken treibt.